7 Gründe für die Überlastung

Es gehört zu meinen belastenden Aufgaben, immer wieder Hilfesuchenden sagen zu müssen, dass sie keine Behandlung bekommen können, da meine Praxis überlastet ist und dasselbe in der Regel auch für andere Praxen gilt. Dies stößt regelmäßig auf Unverständnis. Hier sind manche, nicht alle, Gründe dafür, dass Psychotherapie knapp ist:

 

1. Psychotherapie ist zeitaufwendig: 

Termine bei Psychotherapeut*innen dauern in der Regel 50 Minuten und dadurch deutlich länger als Termine bei Ärzt*innen. Außerdem finden diese Termine in der Regel sehr viel häufiger statt (wöchentlich). Hinzu kommt, dass Psychotherapeut*innen für Kinder und Jugendliche nicht nur Termine mit den Patient*innen selbst machen, sondern auch mit den Bezugspersonen (Eltern, Lehrer*innen, Erzieher*innen, behandelnde Ärzt*innen, zuständige Sozialarbeiter*innen, Familienhelfer*innen usw.). 

 

2. Psychische Erkrankungen sind häufig: 

Epidemiologische Daten vom Robert-Koch-Institut (Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland) zeigen, dass mehr als 27% der Deutschen eine psychische Erkrankung haben im Zeitraum eines Jahres. Das sind mehr als 17 Mio. Menschen jedes Jahr. PDF: Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Auch global sind psychische Erkrankungen weit verbreitet zeigt das Institute for Health Metrics and Evaluation mit dem Projekt Global Burden of Disease  (Informationen auf www.ourworldindata.org)

  

3. Die Nachfrage nach Psychotherapie steigt: 

Das liegt weniger daran, dass psychische Erkrankungen zunehmen, als daran, dass Psychotherapie häufiger in Anspruch genommen wird. Die jetzige Überlastung existiert aber schon, obwohl noch nicht einmal 20% aller Menschen mit psychischer Erkrankung eine ambulante Psychotherapie in Anspruch nimmt (Quelle: Report Psychotherapie 2020).

 

4. Psychotherapie ist bei vielen Gesundheitsproblemen das Mittel der ersten Wahl: 

Schlafstörungen beispielsweise werden und wurden in Deutschland bisher überwiegend medikamentös behandelt - obwohl die wissenschaftliche Leitlinie eine Psychotherapie als Maßnahme der ersten Wahl empfiehlt. Die Nachfrage nach Psychotherapie steigt an, je mehr sich das Wissen verbreitet, dass eine Psychotherapie hilfreich ist.

 

Aufgrund der großen Zahl an Problemen, bei denen Psychotherapie hilfreich sein kann, ergibt sich, "dass es niemals genügend Psychotherapeuten geben kann", sagen Prof. Michael Linden und Prof. Harald Freyberger (Quelle: Die Entscheidung über die Notwendigkeit ist komplex).

 

5. Armut ist einer der größten Risikofaktoren für die psychische Gesundheit:

  • Die Bildung, das Einkommen und die berufliche Stellung, Faktoren des sogenannten sozioökonomischen Status, haben einen sehr großen Einfluss darauf, wie gesund oder krank ein Mensch Deutschland ist. Das zeigt eine Studie des Robert-Koch-Instituts. Auch der Berufsverband der Kinderärzte beklagt die Gesundheitsschäden bei Kindern durch Armut.
  • Leider sind es gerade Paare mit Kindern, die viel häufiger armutsgefährdet sind als z.B. Paare ohne Kinder. Das zeigt der Mikrozensus für Berlin und Brandenburg.
  • Die Studie "Befragung zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten" (BELLA) zeigt: Kinder haben ein ca. 5-fach erhöhtes Risiko für psychische Auffälligkeiten, wenn es zu Hause familiäre Konflikte gibt.

6. Es gibt keine einheitliche Hilfe für Kinder, Jugendliche ihre Eltern. Die Vielzahl der Helfer*innen führt zu einer Verantwortungsdiffusion

Dazu ein anonymisiertes und verfremdetes Beispiel aus einem Erstgespräch in meiner Praxis: Die Mutter und der Stiefvater berichten, dass beim 17jährigen A. ADHS diagnostiziert sei und er aggressives und verweigerndes Verhalten zeige...

  • Die Mutter sei schon früh im Leben von A. beim Sozialpädiatrischen Zentrum in Frankfurt (Oder) in Behandlung gewesen.
  • Eine Ergotherapie und Logopädie habe damals stattgefunden. Es sei aber zu einer Zunahme der Problematik im Entwicklungsverlauf gekommen.
  • Der Kinderarzt habe schon im Alter von 6 Jahren eine medikamentöse Behandlung vorgeschlagen.
  • Die Grundschullehrerin habe aber vehement davon abgeraten, ein Kind auf diese Weise "ruhig zu stellen". Außerdem habe sie gelesen: "ADHS gibt es nicht".
  • Wegen einer Zuspitzung der Probleme nach dem Wechsel auf die Gesamtschule sei A. stationär im Klinikum Frankfurt (Oder) behandelt worden.
  • Anschließend sei A. medikamentös weiter behandelt worden durch die Psychiatrische Institutsambulanz (PIA) Eisenhüttenstadt.
  • Außerdem habe es ein Jahr lang eine Familienhilfe gegeben. A. sei im Verlauf nicht mehr gerne zu den Terminen in die PIA gegangen. Deswegen hätten die Eltern die Behandlung dort beendet. 
  • Die Eltern hätten aber Termine bei einem Kinder- und Jugendpsychiater in Frankfurt (Oder) vereinbart für die Medikation.
  • Auch eine Mutter-Kind-Kur habe stattgefunden. Trotz aller Maßnahmen: A. habe immer öfter das Klassenzimmer verlassen müssen, berichten die Eltern. Er sei auch von der Schulfahrt ausgeschlossen worden. A. habe angefangen, Alkohol zu trinken, zu rauchen, zu kiffen.
  • Die Eltern hätten versucht, A. klar gemacht, dass es zur Suchtberatung der AWO in Eisenhüttenstadt gehen müsse, was er widerwillig einige Male gemacht habe.
  • Zudem war er ein paar Mal bei einer Psychotherapeutin, die weitere Termine aber abgebrochen habe wegen mangelnder Veränderungsmotivation von A.
  • Auch seine Schulsozialarbeiterin versuchte, A. zu helfen: Sie habe angeregt, dass eine LRS-Testung durchgeführt wird.
  • Diese wurde durch die schulpsychologische Beratungsstelle in Beeskow durchgeführt. Die Diagnostik dort habe ergeben, dass die Lese- und Rechtschreibkompetenzen von A. unterdurchschnittlich seien und ein Nachteilsausgleich gewährt werden kann.
  • Die Klassenlehrerin habe den Eltern zunehmend "Druck gemacht" wegen störendem Verhaltens von A. A. habe mehrfach einen schriftlichen Verweis bekommen.
  • Die Eltern müssten sich Hilfe beim Jugendamt holen, habe die Schulleiterin gesagt. Wenn sich nichts ändere, müsse A. die Schule verlassen.
  • Die Eltern haben daraufhin beim Schulverwaltungsamt in Beeskow nachgefragt, ob es Schulen gebe für Kinder mit ADHS. Das sei nicht der Fall.
  • Das Jugendamt habe daraufhin die Erziehungs- und Familienberatungsstelle (EFB) empfohlen. Die EFB wiederum habe mich empfohlen.
  • Die Kinderärztin habe auch nicht mehr weiter gewusst und eine neue Überweisung für die Psychiatrische Institutsambulanz (PIA) ausgestellt, welche aber keine freien Behandlungsplätze habe. A. verweigere nun den Schulbesuch.
  • Aktuell stünden Termine an zur Begutachtung von A. durch die Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit in Frankfurt (Oder).

Im Alter von 17 Jahren von A. gab es also 18 verschiedene Institutionen vor dem Erstgespräch in meiner Praxis und ich bin Helfer Nummer 19. Aufgrund dessen habe ich gezögert, zu erwähnen, dass aus meiner Sicht ein Anspruch auf Eingliederungshilfe besteht. Damit würde sich die Zuständigkeit innerhalb des Jugendamtes ändern (Helfer Nummer 20), außerdem gibt es für betroffene Eltern eine spezialisierte Beratungsstelle (Helfer Nummer 21).

 

7. Die Entscheidungsträger haben beschlossen: Es besteht Überversorgung, z.B. in Eisenhüttenstadt.

 

Der Gemeinsame Bundesausschuss als höchstes Beschlussgremium und der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen für Brandenburg entscheiden, wie viele Psychotherapeut*innen eine Zulassung bekommen dürfen. Dies wird in einem sogenannten Bedarfsplan festgelegt.| www.gba.de | www.kvbb.de | www.kbv.de  | 

 

Die Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg ist gesetzlich verpflichtet, eine ausreichende Versorgung der Versicherten sicherstellen (§72 Abs. 2 SGB V). Die Versorgung für Patient*innen gilt als ausreichend, weil im Bedarfsplan entschieden wurde, dass es eine Überversorgung gibt.| www.kvbb.de | 

 

Die Kassenärztliche Vereinigung muss mit Unterstützung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung entsprechend dem Bedarfsplan alle geeigneten finanziellen und sonstigen Maßnahmen ergreifen, um die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung zu gewährleisten, zu verbessern oder zu fördern (§105 Abs.3 SGB V). Da nach dem Bedarfsplan entschieden wurde, dass Überversorgung herrscht, gibt es keinen Änderungsbedarf.

 

Der Spitzenverband der Krankenkassen sieht das genau so: Es bestehe "teure und unnötige Überversorgung" im fachärztlichen Bereich, zu dem auch der Bereich Psychiatrie und Psychotherapie zählt. "Wir haben in Deutschland keinen Mangel an Psychotherapeuten" heißt es Seitens der Krankenkassen.

 

Anzahl Psychotherapeuten je Einwohner: www.faktencheck-gesundheit.de


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